8. Mai – 26. Juni 2013
Strecke: 2’116 km, Aufstiege: 8’406 m, reine Fahrzeit: 118 Std.
Nach Velotouren durch (fast) sämtliche Länder Ost- und Südost-Europas blieb noch Belarus (Weissrussland) als weisser Fleck in meiner Karte. Wenig bekannt und aus verschiedenen Gründen offenbar auch nicht als attraktives Reiseland eingestuft, wollte ich das doch mal genauer kennenlernen. Die Karpaten kannte ich bisher nur von der Süd- und Westseite her (Slowakei, Rumänien, Moldawien), und so ergab sich eine gute Kombination für eine einmonatige Tour: Vilnius (Litauen) – Belarus von Norden nach Südwesten – Westukraine mit den Karpaten – Kiev (ab Chernivtsi per Bahn).
Eine Tour voller interessanter Eindrücke, die manches Vor-Urteil von uns „Westlern“ eindrücklich korrigieren kann:
– (fast) grenzenlose Natur
– (meist) gute verkehrsarme Strassen (zumindest in Belarus)
– sehr viele freundliche Menschen, die auch Interesse an Besuchern zeigen
– östliche Gastfreundschaft
– ausserhalb der Zentren Einblick in ein Europa, in dem die Zeit aus vielerorts stehen geblieben scheint
– hemmungslos zur Schau gestellter Reichtum der Neureichen neben bedrückender Armut der nach dem Zusammenbruch zurückgelassenen
– . . . und doch noch Optimisten, die sich für eine besser Zukunft einsetzen
Vollständige Bildstrecke unter
1. Vilnius – Belarus Nord
3. Ukraine Nord
5. Lviv – Chernivtsi (Ukraine Süd)
Tagebuch einer Velotour durch den unbekannten Osten
28.Mai Zürich – Vilnius
Flug mit SAS Zürich – Stockholm / Stockholm- Vilnius
Obwohl der Velo-Transport im Kleinflugzeug für die zweite Strecke nicht reserviert werden konnte, kommt es glücklicherweise zusammen mit mir hier an. Zusammensetzen und im Abendverkehr 5 km weit ins Stadtzentrum. Unterkunft im zentral gelegenen Litinterp-Guesthouse (Bernardin 9, sehr zu empfehlen). Erster Rundgang durch die malerische und sehr lebendige Altstadt.
Tagesbilanz Velo: 9 km / 0.5 Std. / 0 m Aufstieg
29. Mai Vilnius
Mit zweistündiger Sight-seeing-Tour verschaffe ich mir einen Überblick und erkunde danach zu Fuss und per Rad die geschichtsträchtige Hauptstadt des ehemaligen Grossreiches mit vielen prächtig restaurierten Bauten. Nur Zeugen aus dem früheren „Jerusalem des Nordens“ sind nach der Nazi-Herrschaft kaum mehr übrig geblieben. Dafür beeindrucken die zahlreichen Kirchen aller christlichen Glaubensrichtungen, Quartiere mit fast dörflichen Holzhäusern und moderne Bauten aus Glas und Stahl.
Tagesbilanz Velo: 16 km / 1.5 Std.
30. Mai Vilnius – Postavy
Auf der 103 geht es Richtung Osten. Nach der Querung der Stadt-Umfahrung nimmt der Verkehr deutlich ab, so dass es recht gemütlich auf dem
Randstreifen durch die hügelige Landschaft geht. Ab Nauji Vila ist die Straße nur noch 2-spurig, aber dafür stört mich nur noch selten ein Auto. Die nahe EU-Aussengrenze hat gewisse Vorteile! Auf Litauen-Seite geht es schnell und einfach durch die Kontrolle, aber bald kündigt eine lange Autokolonne an, dass es wohl nicht so weiter gehen wird. Ich schliesse mich einem Fußgänger an passiere so wenigstens schnell die erste Kontroll-Station. An der zweiten folgt dann die gründliche Kontrolle von Pass und Visum sowie Befragung über woher und wohin durch mehrere Beamte. Ein Velofahrer aus der Schweiz ist für sie wohl eine willkommene Abwechslung, und sämtliche Seiten des Passes werden durchgeblättert und diskutiert. Dazu muss ich trotz vorgelegter internationaler Garantie- Erklärung eine weissrussische Kranken-und Unfallversicherung für 10 Tage einlösen. Kompliziert, aber alle Beamten sind freundlich. Hier kann ich auch erstmals Geld wechseln und muss mich an die grossen Zahlen gewöhnen: 1 Euro gibt etwa 11’000 weissrussische Rubel (BYR), mein Geldbeutel überquillt von Papierscheinen! Nach 40 Minuten passiere ich die dritte Kontrolle und bin definitiv in Belarus. Hier stauen sich die Lastwagen Richtung Westen auf stolze 3,8 km Länge.
Gegen starken Wind geht es auf der P45 durch gewelltes Gebiet mit Birken- und Föhrenwäldern, Sumpf- und Moorflächen, Wiesen und ab und zu kleine Siedlungen weiter. Die Straße ist gut, der Verkehr weiterhin nur schwach. Nach knapp 100 km folgt die Abzweigung nordwärts Richtung Brazlav und erreiche um 18.30 Uhr mein heutiges Ziel Postavy. Auf dem Hauptplatz wird gerade das Ende des Schuljahres mit lauter Musik und Schülerparaden gefeiert. Mein „Zimmer“ im Hotel Postavy ist eher eine 2-Zimmer-Wohnung, mit 110’000 BYR aber für einen „Westler“ phänomenal billig.
Tagesbilanz Velo: 136 km / 7.2 Std. / 409 m Aufstieg
31. Mai Postavy – Brazlav
Die Gegend ist fast flach, die Straße sehr gut, Autos selten: eine echte Genuss-Etappe. Wälder mit Frosch-Gequake aus den zahlreichen Tümpeln
und Gräben wechseln ab mit weiten Feldern, auf denen Störche und Krähen ihr Futter suchen. Das ständige Trillern von Lerchen zeigt, dass die Landwirtschaft auf den riesigen Feldern der Natur doch noch Raum lässt. Pferde-Fuhrwerke sind noch das weitverbreitete Transsportmittel. In den Dörfern dominieren gelb, grün und blau gestrichene Holzhäuschen. Obwohl die litauische Grenze hier sehr nahe ist, gibt es keine offene Verbindungsstrasse. Über Vidsy und Opsa erreiche ich den grossen Drivjaty-See mit dem Kreis-Hauptort Brazlav. Etwa 3 km südöstlich des Ortes finde ich an einer Bucht im Föhrenwald die Tourbasa „Drivyty“:Ferienhäuser, ein Restaurant und ein Hotel (Zimmer mit Bad + Balkon für 16 € ). Den späten Nachmittag nutze ich für eine Rundfahrt durch die Umgebung mit den vielen Seen und Wäldern: eine Landschaft wie Finnland in den schönsten Ferienprospekten.
Tagesbilanz Velo: 108 km / 6.2 Std. / 195 m Aufstieg
1.Juni Brazlav – Polozk
Kurz nach halb sieben geht es wieder los, ostwärts auf der P14 Richtung Polozk. Auch hier wieder nur wenig Verkehr, dafür Vögel, Störche, Frösche, gelegentlich Kühe und Pferde und immer wieder neue Aussichten auf Seen und kleine Siedlungen. Am Obstreno-See zeigt mir ein Fischer, von wo es die beste Sicht auf die Nester mit den brütenden Haubentauchern gibt. In Miory mache ich vor der mächtigen Kathedrale einen Picknick-Halt, aber einen Ort für meinen ersten Kaffee vom Tag finde ich in diesem doch recht grossen Ort nirgends. Hinter dem ausgedehnten Elnja-Sumpf gibt es immer mehr kleine Dörfer, und der Verkehr nimmt allmählich etwas zu. Bei Disna nehme ich mir Zeit für einen Abstecher in diese „kleinste Stadt von Belarus“. Einst ein wichtiges jüdisches Zentrum am Ufer der Dvina, ist es seit dem 2. Weltkrieg eigentlich nur noch ein mittelgroßes Dorf. Neben der rekonstruierten Kirche erinnern nur noch die Ruinen des ehemaligen Spitals an die frühere Bedeutung des Ortes.
15 km weiter kommt mir ein Radfahrer entgegen; es ist Michail aus Novopolozk, mein unbekannter Gastgeber, auf den ich dank „Warmshowers“ gestoßen bin und der mir per e-mail schon einige Infos für meine Reise geliefert hat. Er begrüßt mich mit frischem Obst, und gemeinsam nehmen wir die restliche Tagesetappe unter die Räder. Nachdem wir seine Abkürzung durch Wald und Schlamm glücklich hinter uns haben, spülen wir die Fahrräder zuerst im Ljuchovo-See Die Trabantenstadt Novopolozk 10 km nordwestlich von Polozk ist erst in den 60-er Jahren mit Wohnblocks für die Beschäftigten der riesigen Petro-Industrie entstanden und hat heute über 100’000 Einwohner. Der freundliche Eindruck mit den vielen Grünflächen, hellen Verwaltungsgebäuden und grosszügigen Plätzen wird nur durch den Geruch von den Raffinerien her geschmälert. In der 4-Zimmerwohnung von Michail erhalte ich das Wohnzimmer für die Übernachtung, wo uns seine Frau Irina auch das Nachtessen serviert. Zusammen mit zwei Freunden von Michail, wie er angefressene Velofahrer, setzen wir im Korridor auch wieder die Übersetzung in Stande und fachsimpeln über Ausrüstungen und Gepäck.
Tagesbilanz Velo: 135 km / 8.6 Std. / 198 m Aufstieg
2. Juni Polozk – Dokshicy
Nach einem Bad um halb sieben im Ljuchovo-See (ca. 22 °C!) und reichhaltigem Morgenessen führen mich Misha und Irina auf Schleichwegen
nach Polozk, einst eine der bedeutendsten Städte der Kiewer Rus. Nach der weitgehenden Zerstörung im 2. Weltkrieg erinnern nur noch einige wieder aufgebaute Bauten an die einstige Größe. Trotzdem, das St.Euphrosyne-Kloster, die barocke Sophien-Kathedrale oder das Zentrum um die Gagarin-Straße lohnen einen Besuch. Neben Denkmälern an den Krieg gegen Napoleon oder zur Erinnerung an sowjetische Kriegshelden stosse ich hier auch (nicht zum letzten Mal!) auf das angebliche geografische Zentrum Europas, und selbst der nur in Weißrussland existierende Buchstaben „Ў“ hat hier sein eigenes Denkmal.
Meine Gastgeber begleiten mich noch ein Stück auf der Nebenstrasse Richtung Süden, und dann bin ich wieder weitgehend allein unterwegs durch Wälder, Felder und ab und zu eine kleine Siedlung. Nach der Mittagspause bei 30°C im Stadtpark von Ushashdshy geht es südwestwärts nach Dokshicy. Meine Freunde in Polozk haben mir zwar dringend von dieser Strasse abgeraten, da sie in einem Zwischenstück nur aus einem Feldweg bestehe, aber aus früheren Erfahrungen lasse ich mich nicht davon abhalten. Aber das Schicksal will
es offenbar doch anders und lässt mich eine Abzweigung übersehen. So lande ich nach 40 km auf der Hauptstrasse Vilnius – Polozk (P45), nur 25 km von meinem Ausgangspunkt entfernt! Also tüchtig in die Pedalen treten, um über Glubokoe doch noch das geplante Etappenziel zu erreichen. Bei Glubokoe kreuze ich auch erstmals auf meiner Tour einen Velo-Touristen, offenbar aber einheimisch. Auf der P3 Richtung Minsk herrscht mehr Verkehr, aber der Randstreifen lässt mir meistens genügend Platz. Gegen halb 9 abends überquere ich die berühmte Beresina und bin nach 160 km in Dokshicy. Wieder gutes, günstiges Hotel, aber als Nachtessen gibt es nur noch den üblichen Salat (Gurken, Tomaten und Zwiebeln) und dazu ein Bier. Ich habe zum Glück noch Farmer-Stängel in meinem Notproviant!
Tagesbilanz Velo: 161 km / 8.1 Std. / 596 m Aufstieg
3. Juni Dokshicy – Minsk
Morgenessen gibt es auch hier nirgends, also starte ich den Tag wie meistens mit Frucht-Yoghurt und Brötchen, die ich am Vorabend noch im nahen Univermag kaufen konnte. Zu sehen gibt es außer der im nordischen Stil erbauten Kirche nicht viel, und so geht es kurz nach acht Uhr auf der P29 südwestwärts. Gefühlsmäßig größtenteils durch Wald, aber es sind meistens nur die beidseitigen breiten Baumstreifen, die diesen Eindruck vermitteln. Von Misha und Ira aus Polozk erhalte ich ein sms: toll, ich kann in Minsk bei Freunden im Stadtzentrum übernachten! Nach der polnischen Jesuiten-Kirche bei Kostenevichy beginnt auf der P58 der Kampf gegen kräftigen Ostwind, und auf der Brücke über den Vileiskoe-Stausee beginnt es auch noch zu regnen. Zum Glück taucht hier gerade wieder einmal eine der gemütlichen Rasthütten auf, wo zwar meistens noch leere Bier- und Wodka-Flaschen herumliegen, aber guten Schutz bieten und notfalls mit dem Schlafsack sogar als Nachtlager dienen könnten. Trotzdem fahre ich schließlich eine gute Stunde in starkem Regen weiter. Im Laufe des Nachmittags kommt ab und zu wieder etwas Sonnenschein. Die langen Waldstrecken sind etwas eintönig. Bei dem geringen Verkehr kann ich mir dafür aus dem iPod etwas
Abwechslung leisten. Und bei Vishnjovka, kurz vor Minsk, komme ich in einer kleinen Raststätte auch endlich zu meinem seit dem Morgen ersehnten Espresso. Der Verkehr nimmt nun deutlich zu, die P58 wird zur richtungsgetrennten Schnellstraße mit je 2 Spuren. Am Horizont tauchen Hochhäuser auf, und schließlich stecke ich kurz nach Znyanka auf wieder normaler Straße im dichten Verkehrsstau, der sich nur noch langsam durch Baustellen windet. Erst nach einigen Kilometern kommen wieder breite Straßen, hier nun sogar mit Radspuren. Mit einigem Fragen finde ich schließlich sogar das Haus meiner noch unbekannten neuen Gastgeber: eine 3-Zimmer-Wohnung in einem Wohnblock aus den 50-er Jahren mit gut 150 Wohnungen, noch ganz im tief sowjetischen Stil, aber mit einem wunderbar herzlichem Gastgeberpaar. Im bis oben mit Büchern und Bildern vollgestopften Arbeitszimmer von Sergej bekomme ich das Bettsofa für die kommenden 3 Nächte. Und sogar mein Velo findet hier vor dem Fenster noch seinen Platz.
Tagesbilanz Velo: 148 km / 7.6 Std. /526 m Aufstieg
4. Juni Minsk
Morgenessen in der engen Küche mit Kasha (Buchweizengrütze) , Kislovky und Kaffee. Meine Gastgeberin Ira nimmt sich vor ihrer Arbeit als Mikrobiologin zuerst zwei Stunden Zeit, um mir einige Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt zu zeigen: das Opern- und Theaterhaus, diverse Kirchen, das alte Rathaus, das Konservatorium, Parks, die Gedenkstätte zum Massaker an der jüd. Bevölkerung, die Tränen-Insel mit dem Denkmal für die Gefallenen in Afghanistan, … .
Mit Iras Empfehlungen und einem Stadtplan bewaffnet erkunde ich weitere Plätze und vor allem den langen Unabhängigkeits-Prospekt mit den alten und neuen Verwaltungsgebäuden: Universität, pädagog. Hochschule, Regierung und Parlament (und unter dem grossen Platz davor das riesige Einkaufszentrum mit allen Luxusgütern!), KGB-Gebäude, Palast der Republik, Kriegs-Museum, Dsershinsky-Statue, Gewerkschafts-Palast, Offiziers-Haus, Zirkus, … . Auf den Straßen dichter Verkehr mit Bussen und Autos aus dem obersten Preis-Segment. Und abends leuchtet über dem Unabhängigkeitsplatz die Parole: „Der Volkswille ist unsterblich“, und die Fussgängerpassage wird durch Heldenverehrungen aus dem „Grossen Vaterländischen Krieg“ erleuchtet. Derweilen werden noch verbliebene Grünflächen neben dem Staatszirkus mit gigantischen Neubauten zugedeckt. Belarus zeigt sich hier als Land zwischen gestern und morgen, das heute scheint irgendwo verloren zu sein. Und die Politik? Die Antwort, die ich bekomme: „Die Weißrussen haben die Regierung, die sie verdienen“. – Sarkasmus oder Resignation?
5. Juni Minsk und Umgebung
Meine Gastgeber Ira und Sergej haben sich den Tag für einen Ausflug mit mir reserviert: Ausgerüstet mit Picknick fahren wir mit der „Elektritschka“ fahren wir westwärts aus der Stadt und wandern entlang der Schnellstraße und weglos querfeldein nach Gorodischtsche, um die älteste Siedlung von Minsk zu besichtigen. Zu sehen sind nur noch mit Wald bewachsene Erdwälle, ein zerfallenes Fußballtor und irgendwo im hohen Gras eine kaum sichtbare Tafel mit einem kurzen Hinweis. Wesentlich lohnender ist das weiter östlich gelegene Freilichtmuseum bei Oserzo, eine Art weißrussisches „Ballenberg“: Auf einem grossen Gelände sind Häuser, Scheunen, Kirchen und Mühlen aus ganz Belarus inklusive Inneneinrichtungen aufgestellt, die das Leben in vergangener Zeit eindrücklich dokumentieren. Mit Bus und Metro kehren wir abends zufrieden nach Minsk zurück. Mit einem langen Spaziergang durch die zentralen Parks genieße ich nochmals die wahren Schönheiten dieser 2-Millionen-Stadt.
6. Juni (Minsk – ) Stolzy – Njazwish
Voller Dankbarkeit und mit der Erinnerung an interessante Gespräche am Tisch in der engen Küche verabschiede ich mich von Sergej und Ira. Richtung Südwesten gibt es aus der Hauptstadt nur die Hauptverkehrsachse P1 gegen Brest und Warschau. Auf Empfehlung meiner Gastgeber nehme ich deshalb bis Stolbzy die Elektritschka. Dafür bleibt mir nun genügend Zeit, um in Mir eine der größten Sehenswürdigkeiten von Belarus zu besuchen: neben dem beschaulichen Städtchen mit schön restaurierten Häusern aus der Zeit um 1900 und der ehemaligen jüdischen Jeshiva thront die mächtige Burganlage aus dem 15. Jh. ,seit 2000 als UNESCO-Kulturerbe klassifiziert. Sowohl als Gesamtanlage als auch in den historisch eingerichteten Innenräumen sehenswert.
Nachdem ich ein kurzes Gewitter bei einem feinen Espresso (echter Genuss!) vorbei ziehen lasse, geht die Fahrt wieder südwärts weiter. In Gorodeja staut der Verkehr wegen einem langen Trauerzug mit offenem Sarg, Priester und Sängern. Das heutige Etappenziel Njazwish ist ein weiteres Highlight von Belarus: die barocke Schlossanlage mit grossem Park der einst mächtigen Radzivili-Dynastie, die Fronleichnams-Kirche (16.Jh), das Bernhardiner-Kloster (16.Jh.), das Rathaus (16.Jh.), das Sluzker-Tor und noch vieles mehr. Nach dem Zimmerbezug im ZKH-Hotel (grosses, sauberes Zimmer, ca. Fr. 30.-) besuche ich den grossen Schlosspark (das Schloss ist leider nur bis 17 Uhr offen), das Kloster (heute ein Gymnasium) und genieße im Rathauskeller ein reichhaltiges Nachtessen (Fr. 8.- inkl. Bier). Eine Gruppe Lehrer und Lehrerinnen vom Gymnasium ziehen mich in Diskussionen über das Leben hier und im Westen, und erst nach einigen Gläschen Wodka finde ich dank kühler Nachtluft wieder glücklich den Weg zurück ins Hotel.
Tagesbilanz Velo: 62 km / 3.2 Std. / 231 m Aufstieg
7. Juni Njazwish – Gancevicy
Zunächst besuche ich das Schloss mit den reich ausgestatteten historischen Räumen aus 4 Jahrhunderten. Es bietet offensichtlich ein Vielzahl von Arbeitsplätzen: in jedem Raum wacht mindestens ein Frau, dass die Besucher die Weisungen befolgen. In der Fronleichnams-Kirche mit den prächtigen Deckenmalereien und der düsteren Radzivili-Gruft ringt mir die Küsterin neben dem Eintritt von 5’000 BYR auch noch eine ebenso grosse Gabe für den Opferstock ab. Wenigstens die geschnitzten Holzfiguren am Flussufer beim Sluzker-Tor sind gratis zu besichtigen.
Auf der P12 geht es gegen Mittag nach Süden. Mittagspause in Klezk bei Yoghurt, Gebäck und Glacé. Wegweiser sind Mangelware, und so finde ich erst nach kurzer Irrfahrt die P13 nach Sinjavka. Wieder sehr ländlich und wenig Verkehr, dafür ab und zu etwas Regen. Meine Regenhose und die Regenjacke bewähren sich bestens, dafür wird es gelegentlich von innen feucht. Mit einem Wolkenbruch erreiche ich mein heutiges Etappenziel Ganzevicy, Bezirkshauptort und wie viele „Städte“ hier einfach ein grosses „Kaff“: grosse, teilweise leer stehende Industrie-Anlagen, wenige Geschäfte, einige Wohnblocks, grosse Amts- und Schulgebäude, großzügige Hauptstraßen mit separaten Wegen für die Fußgänger, löchrige Nebenstraßen mit grossen Pfützen, verwahrloste Grünanlagen. Im Zentrum wie überall die „Ehrentafel“ mit den Personen, die im vergangenen Jahr zu lokalen Helden ernannt worden sind. Auf dem Hauptplatz proben die Schüler mit Gruppendarbietungen zu lauter Disco-Musik für das Fest zum Schuljahres-Abschluss. Im modernen Hotel „Shuravushka“ im Zentrum hat es kaum Gäste, es ist nachts sehr ruhig, dafür plagen mich nach dem Regen nun die Mücken.
Tagesbilanz Velo: 77 km / 4.2 Std. / 151 m Aufstieg
8.Juni Gancevicy – Pinsk
Nach meinem improvisierten „Morgenessen“ (Fruchtjoghurt, Brötchen, Apfelsaft) und tatkräftiger Mithilfe der freundlichen Dame vom Empfang starte ich um 06.40 auf der P105 südwestwärts und bin schon nach wenigen Minuten wieder auf einsamer Straße tief im Wald unterwegs, nur begleitet vom lauten Gequake der Frösche. Nach einer Kaffe-Pause in Logishin komme ich um 12.30 Uhr in Pinsk wieder in städtisches Gebiet. Samstag und Markt. Als erstes wieder den Durst löschen mit einem halben Liter Kvas, dann ein Rundgang durch das Gedränge zwischen den Ständen. Auffallend sind vor allem die Erdbeeren, die gleich in grossen Kesseln angeboten werden, sowie viel Honig. Ein Taxifahrer hilft mir, das Hotel Pripjat zu finden: ein typischer 12-stöckiger Bau, der noch die ganze Aera der Sowjet-Zeit ausstrahlt, auch wenn die protzige Eingangshalle von einem riesigen Flachbildschirm mit Disco-Lärm dominiert wird. Der Lift mit Holzverkleidung rumpelt wie eine alte Bergbahn, im Zimmer kommt aus allen Hahnen nur kaltes Wasser, am Balkongeländer fehlen einige Bretter …, aber die Aussicht über den nahen Pripjat mit den Ausflugsschiffen kompensiert all das. Zu Fuss erkunde ich die Stadt, die neben schäbigen Plattenbauten und einigen eher skurril anmutenden Neubauten noch vielerorts ein wenig an ihre Vergangenheit erinnert, als Pinsk so bedeutend wie Vilnius, Kiev oder Polozk war : die vielen ein- und zweistöckigen Häuser mit Stuckaturen um Fenster und Türen, das Theater, das mächtige Jesuiten-Kollegium (mit der Lenin-Statue davor), das Franziskaner-Kloster mit der barocken Kirche. Die Synagoge und der Platz mit den ausdrucksvollen Holzskulpturen ruft auch in Erinnerung, dass vor dem 2.Weltkrieg fast 90% der Bevölkerung jüdisch war. Etwa 30’000 Einwohner wurden hier umgebracht, davon 10’000 an einem einzigen Tag …..
Ein Spaziergang auf der belebten und stimmungsvollen Uferpromenade bringt mich wieder in die Gegenwart zurück. Die Restaurants sind wie üblich an Samstagen fast überall durch Hochzeitsgesellschaften belegt. Wenigstens auf einer Terrasse komme ich doch noch zu einem Schaschlick. Die Hochzeiten rufen sich zwar in der Nacht mehrmals durch gewaltige Feuerwerke in Erinnerung, aber dank dem 7. Stock plagen mich hier nicht auch noch die Mücken.
Tagesbilanz Velo: 96 km / 4.7 Std. / 30 m Aufstieg
9.Juni Pinsk – Sarny (UA)
Schon um halb sieben verlasse ich Pinsk auf der P6. Über den Pripjat-Sümpfen liegt dichter Nebel, durch den erst allmählich die Sonne dringt. Mit der Sonne wird es auch angenehm warm. An den zahlreichen Wassergräben, welche die weiten landwirtschaftlichen Flächen entwässern, reihen sich die Sonntagsfischer. Kurz vor Stolin nehme ich die Abkürzung entlang der Bahnlinie nach Retschina und notiere auf meinem Ciclo den 1000. Kilometer der Tour. Mit Biskuits und Mineralwasser entledige ich mich meines weissrussischen Kleingeldes (d.h. Tausender-Scheine!), die größeren Scheine kann ich an der Grenze noch in Euro umtauschen, ukrainische Grivni gibt es hier nicht. Offenbar traut man der Währung des
Nachbarn nicht. Aber die Formalitäten sind viel einfacher: 15 Minuten am weissrussischen Zoll, 5 Minuten am ukrainischen. Dafür möchte die ukrainischen Beamten schon von mir wissen, in welchem Land die Straßen besser seien und erwarten, dass ich natürlich die Ukraine lobe. Die Antwort kann ich erst einige Tage später geben, und sie würde den Beamten nicht gefallen. Vorerst kann ich nicht klagen, und der Verkehr ist weiterhin sehr mäßig, nimmt aber doch allmählich zu. Ab Dubrovicja möchte ich deshalb auf die weiter östlich verlaufende Nebenstraße wechseln und lerne so schon eine ukrainische Eigenart kennen: Wegweiser sind selten, und die wenigen vorhandenen zeigen oft Orte, die in meiner Karte nicht zu finden sind. Schon der Weg ins Ortszentrum wird zu einer kleinen Irrfahrt über Straßen mit Schlaglöchern ohne Ende. Das Zentrum ist schön mit Cafés und Spielplätzen, überall viele Menschen, die den freien Tag genießen. Aber die Fortsetzung beginnt zuerst gleich wieder mit einer Irrfahrt. Glücklich bin ich schließlich auf der richtigen Straße, und erst noch mit gutem Asphalt Belag. Die Freude dauert aber nur knappe 5 km, bis Bereshky. Ab hier werde ich auf grobem Pflasterstein durchgeschüttelt, und der sandige Streifen beidseits ist kaum befahrbar. In manchen Abschnitten ist nur noch Sand, und so geht es anstrengend und mir kurzen Regenschauern noch gut 20 km weiter bis nach Sarny. Hier geht es zunächst nur durch heruntergekommene Industriegelände, bis mit der grossen Kirche doch noch ein etwas belebtes und hübsches Ortszentrum auftaucht. Dominiert wird der Platz mit schöner Allee von einem Panzer als Denkmal für die Befreiung im 2.Weltkrieg. Im (wohl einzigen) Hotel Slutsch am Hauptplatz mit gutem Zimmer für 242 Grivni (ca. 27 Franken) muss ich der Frau am Empfang die Nationalität selber aufschreiben, da ihr „Швейцария“ völlig unbekannt ist. Die nassen Regenkleider kann ich im Heizungsraum (auch im Sommer in Betrieb!) aufhängen. Auch hier ist das nahe Restaurant durch eine Hochzeitsgesellschaft besetzt, aber am Ende des Platzes komme ich doch noch zu einem Nachtessen nach dem eher anstrengenden Tag.
Tagesbilanz Velo: 138 km / 7.4 Std. / 78 m Aufstieg
10.Juni Sarny – Dubno
Morgenessen wie gewohnt, 7 Uhr Abfahrt. Der Eisenbahnknotenpunkt Sarny ist auch ein Industrieort, entsprechend hat es nun auch häufiger Lastwagen, welche ihre Spuren im Asphalt mit tiefen Rinnen hinterlassen. Deshalb auch die besonderen Tafeln: Lastwagenverbot bei Temperaturen über 28°C ; Kontrollen? Immerhin schaffen die Rinnen auch einen kleine Fahrradstreifen, da fast alle Fahrzeuge weiter innen fahren. Lange gerade Strecken mit rund der Hälfte Wald. Grosse Tafeln zeigen, welche Waldgenossenschaft hier zuständig ist, mit Plakaten wird auch daran erinnert, dass der Wald keine Abfall-Deponie sein soll. Zwischenhalt in Jarinivka, Einkauf von Zwischenproviant, Fruchtsaft und Wasser. Nach dem flachen Start beginnen bei Oleksandrja erstmals wieder längere Steigungen. Rivne nach gut 90 km ist ein regionales Zentrum mit viel Verkehr. Im zentralen Park mit der Statue irgend eines Kosaken-Hetman mache ich Mittagspause mit einer kurzen Siesta. Sehenswert ist die an einer stillen Nebenstraße gelegene blaue Holzkirche aus dem 18.Jh. aber leider geschlossen. Die Soborna-Strasse ist das eigentliche Stadtzentrum mit prächtigem Theater, Einkaufszentren und dem grossen Platz mit der Statue von des ukrainischen National-Dichters Taras Ševčenko, wo politische Parteien gerade auf Werbetournee sind. Im dichten Verkehr und ohne Wegweiser gelange ich auch hier erst auf Umwegen wieder aus der Stadt. Hier kreuze ich auch erst zum 3. Mal auf dieser Tour einen Velo-Touristen, laut seinem Fähnchen aus Polen. Ein schweres Gewitter überrascht mich zum Glück gleich bei einem Imbiss mit gedeckten Sitzplätzen, und erst nach einer Stunde geht es durch tiefe Wasserlachen weiter. Zum ersten Mal fahre ich in der Ukraine auf einer guten, 4-spurigen Straße, sogar mit breitem Seitenstreifen für mich! Dafür wird die Zufahrt zu meinem Tagesziel Dubno ein Horror: zwar dekorative, aber schlecht verfugte Pflastersteine zwingen fast zum Schritt-Tempo. Von den drei mir empfohlenen Hotels fällt meine Wahl auf das „Antik“ gleich neben dem malerischen Schloss; wirklich antik, aber stilvoll, ruhig und mit 300 Grivni sogar günstig, ganz im Gegensatz zu den protzigen Hotels am anderen Ende des Städtchens. Und nach der Schlossbesichtigung und kleinem Stadtrundgang erst noch gutes Essen im Freien mit Aussicht.
Tagesbilanz Velo: 143 km / 7.8 Std. / 374 m Aufstieg
11.Juni Dubno – Zolociv
Heute ist „Kultur-Tag“. Aber wo geht es nach Kremenec und Pocaiv? Der Kellner beim Morgenessen hat keine Ahnung, Wegweiser gibt es nicht; also nehme ich im morgendlichen Berufsverkehr einfach die erste Straße Richtung Süden und sehe weit außerhalb der Stadt erstmals eine Distanzangabe für Ternopil: es ist die richtige Straße! Bei leichtem Regen geht es durch eine hügelige Landschaft: fast wie in der Schweiz, aber nur selten ein Dorf. Die Straße ist noch gut, aber ab der Abzweigung Kremenec kann ich kaum glauben, auf dem richtigen Weg zu sein. Zwar breit, aber meist ohne Belag, geht es durch das enge Tal etwa 3 km teils steil hinauf. Das Zentrum wird dominiert vom mächtigen gelben Jesuiten- Lyzeum in freundlichem Rokoko-Stil und der blauen Nikolaj-Kathedrale, dazwischen der Park mit Kriegsdenkmälern. Aus der Nähe erweist sich das Klostergebäude als recht baufällig; leider ist die imposante Kirche geschlossen. Auf den Aufstieg zur mächtigen Burgruine muss ich aus Zeitgründen verzichten, dafür genieße ich zwei Espresso am Rande des Marktes und mache mich um 11 Uhr auf nach Pocaiv. Nach einer guten Stunde tauchen am Horizont die goldenen Dächer auf. Der mächtige Kloster-Komplex ist ein stark besuchter Wallfahrts-Ort für Katholiken und Orthodoxe aus ganz Ost-Europa und wird ständig noch weiter ausgebaut. Im Gegensatz zur ukrainischen Infrastruktur scheint hier Geld reichlich vorhanden zu sein. Die einzelnen Bauten sind sehr schön und beeindruckend, aber in ihrer Fülle fast erschlagend. Gut ausgeruht geht es nach zwei Stunden weiter, ein endloses auf und ab, manchmal mit riesigen Feldern, dann wieder nur kleinstrukturierte Landwirtschaft. Gegen 18 Uhr erreiche ich endlich mit meiner letzten Wasserreserve bei Zboriv die Hauptstraße Ternopil – Lemberg. Ab hier hat es teilweise starken Verkehr, insbesondere Lastwagen. Aber trotz der Bedeutung dieses Verkehrsachse folgen auch hier immer wieder katastrophale Abschnitte, auf denen sich Lastwagen und PWs im Schritt-Tempo den Weg zwischen den grossen Löchern suchen müssen. Endlich kommt die Abzweigung nach Zolociv (natürlich ohne Wegweiser!). Das Hotel Ukraina wirkt zwar etwas Verlottert, aber für nur 150 Grivni bekomme ich gleich eine kleine 2-Zimmerwohnung, in der die Dusche sogar heißes Wasser bringt. Und beim Spaziergang durch die Stadt mit teils engen Gassen komme ich auch noch zu einem guten Nachtessen inkl. Bier, ein Glas guten Massandra-Wein und einem Espresso für 112 Grivni (etwa 13 Franken!). Vom Gespräch der Leute am Nebentisch verstehe ich hingegen gar nichts: hier wird fast nur ukrainisch gesprochen, und das hört sich trotz der Nähe zu russisch nun absolut fremd an.
Tagesbilanz Velo: 147 km / 7.6 Std. / 1’082 m Aufstieg
12. Juni Zolociv – Lviv
Der Morgen startet nach gründlicher Veloreinigung und kleiner Stadtrundfahrt mit einem schaumigen „polskij kafe“- viel Pulver, schwarz und süss. Vor der Weiterfahrt mache ich noch einen Abstecher zu einer grossen Holzkirche am Rande von Zolociv. Nachts hat es wieder geregnet, alle Schlaglöcher sind mit Wasser gefüllt. Und so stecke ich plötzlich mit dem Vorderrad in einem tiefen Loch fest, das ich nur für einen Tümpel gehalten hatte. Einmal mehr lobe ich mir mein stabiles TdS-Velo. Jedes andere hätte hier wohl mit einem Bruch geendet. Entsprechend vorsichtig umfahre ich nun auf der Hauptstraße nach Lviv jede Wasserlache und versuche auch, mich von den Lastwagen nicht duschen zu lassen und bei deren Auftauchen im Rückspiegel nicht gerade einen See in der Nähe zu haben. Ab Vynnyky wird es ungemütlich. In diesem grossen Vorort herrscht dichter Verkehr, und dazu geht’s nun auch noch steil aufwärts. Nach einer kurzen Erholung auf Asphalt durch Wald folgt die strapaziöse Einfahrt in die Stadt auf der Lykachivsky-Strasse: zwar breit, aber durchgehend Pflastersteine, die sich ungleichmäßig gesenkt haben, ab und zu fehlen, dichter stockender Verkehr, und keine sichtbaren Hinweistafeln. Schließlich stehe ich an einem Platz mit einer Ritterstatue und einer grossen Kirche. Nach langer Zeit kann ich mich versichern, dass ich tatsächlich im Zentrum bin beim ehemaligen Bernardiner-Kloster und dem Denkmal des Stadtgründers Danylo. Die Suche nach meinem gestern vorreservierten Hotel benötigt aber nochmals eine gute Stunde, obwohl es nur 15 Fuß-Minuten entfernt liegt. Das „Leotel“ an der …. kann ich aber jedem Besucher der Stadt bestens empfehlen: trotz Stadt ruhige Lage, sehr gute Zimmer und mit 480 Grivni (ca. 50 Franken) inkl. Morgenessen für diese touristische Stadt sehr günstig!
Den späten Nachmittag und die halbe Sommer-Nacht lasse ich die Stimmung dieser lebhaften Stadt in engen Gassen und grossen Plätzen auf mich wirken. Ein idealer Ort für eine Pause vor den kommenden Tagen in den Karpaten.
Tagesbilanz Velo: 77 km / 3.9 Std. / 350 m Aufstieg
13. Juni Lviv
Ein ganzer Tag mit Spazieren, Besichtigen und Genießen. Von der reichen kulturellen Vergangenheit und als anerkanntes UNESCO-Kulturerbe
zeugen überall Bauten aus den verschiedenen Epochen. Nach einem Überblick vom Turm des Rathauses lasse ich mir auf einer 2-stündigen Führung durch eine sehr engagierte Führerin mit 2 weiteren Touristen einige besondere Sehenswürdigkeiten erklären, dann geht es auf eigene Faust weiter, vom Denkmal für den enthaupteten Kosakenführer Potcoava durch die jüdischen und armenischen Viertel, zu den Jugendstil-Häusern, dem prachtvollen Opernhaus und über den Svobody-Prospekt mit den großzügigen Alleen, wo fast auf jedem zweiten Bank Schach oder Backgammon gespielt wird. Und als Spezialität natürlich auch ein „Lemberger Kaffee“ in einem der stilvollen Kaffeehäuser. Eine separate Reise nur nach Lviv würde sich lohnen. Aber das haben auch schon Heerscharen von Touristen entdeckt.
14. Juni Lviv – Drogobych
Um 10 Uhr starte ich im dichten Morgenverkehr und wieder über Pflastersteine südwestwärts Richtung Karpaten. Mangels Wegweisern fahre ich gefühlsmäßig nach Kompass. Nach 2 stressigen Kilometern bin ich auch wieder auf breiten und guten Straßen; „Emmentaler-Strecken“ (d.h. total verlöchert) sind heute erfreulich selten! Mit Ausnahme kleiner Kuppen ist die Gegend immer noch flach. In Pustomiti besorge ich in einem „Produkty“ wieder Zwischenverpflegung und schaue zu, wie Gerste, Reis etc. aus offenen 50-Kilo-Säcken verkauft wird. Welch angenehmer Unterschied zu unseren super-hygienischen Konsum-Tempeln! Einzelne Dörfer hier strahlen bei diesem heißen Sommerwettern fast eine französische Atmosphäre aus. Das Wasser wird manchenorts noch aus Ziehbrunnen mit dem Kessel gefördert. Auffallend sind die häufigen Baustellen von neuen Kirchen oder auch nur Kreuzen. An der Zufahrt nach Drogobych fällt mir bereits zum zweiten Mal ein Ast auf, der aus dem Straßenrand ragt. Er markiert einen fehlenden Schachtdeckel; vermutlich hat jemand für Eigenverbrauch oder Alteisen damit eine bessere Verwendung gefunden.
Auf dem Hauptplatz spricht mich ein Einheimischer mit Velo an, und wir kommen in ein längeres Gespräch. Sein russisch ist zwar mit einigen unbekannten Wörtern durchsetzt, ich vermute, dass es ukrainisch ist, aber es klappt doch recht gut. Er war zu Sowjet-Zeiten nach einem Wirtschafts-Studium Leiter eines Staatsbetriebes und führt jetzt ein kleines Haushaltgeschäft. Früher sei einiges besser gewesen: bei guter Ausbildung sichere Arbeit, geringes, aber sicheres Einkommen, … Heute viele Arbeitslose, kaum ausreichender Verdienst (ca. 150 Euro/Monat), wer mehr verdienen möchte, geht gleich ins Ausland, unfähige Politiker, … – Es ist das selbe, das ich unterwegs immer wieder zu hören bekomme. Er empfiehlt mir das Hotel Tustan und begleitet mich gleich dorthin; gutes Zimmer für 200 Grivni, und das heiße Wasser fließt entgegen dem Anschlag sogar jetzt und nicht nur von 19 – 22 Uhr. Mein Velo nimmt die Frau am Empfang gleich zur Obhut in ihre Wohnung.
Zu Fuß mache ich einen Rundgang durch die recht gut erhaltene Altstadt mit zahlreichen Häusern aus der k.&.k-Zeit, und zu den Sehenswürdigkeiten: u.a. der ausgedehnte Markt (interessant wie in allen Städten!), die Ruine der „Grossen Synagoge“, die mächtige Kirche Mariä Himmelfahrt mit der Erinnerungstafel an das Haus des Schriftstellers Bruno Schulz (der „ukrainisch Kafka“), die Gedenktafeln mit den eindrücklichen Köpfen für die Opfer der Judenvernichtung, die Holzkirche St.Georg (ein Meisterwerk der alten Zimmerleute!) mit den wunderbaren Malereien aus dem 15.Jh. Den Tag beschließe ich bei Sonnenuntergang im Foxi-Roxi bei einem schmackhaften Eintopf und gutem Bier.
Tagesbilanz Velo: 78 km / 4.1 Std. / 351 m Aufstieg
- Juni Drogobych – Volovec
Im Mittelalter gründete der Reichtum von Drogobych auf der Salz-Gewinnung, entstand hier im 19.Jh. eines der ersten Erdöl-Reviere der Welt mit rund 1300 Bohrlöchern. Davon zeugen heute nur noch meist vor sich hin rostende Raffinerien beim nahen Borislav. Und die Straße durch dieses Gebiet ist ebenso katastrophal! Bei den letzten Häusern dieses Ortes komme ich unvermittelt in die Hügel und Täler der Karpaten. Mit teilweise 15% Steigung geht es durch Wald über den ersten Pass. In Skhidnitsa stellen Händler ihre Stände mit Fell- und Wollmatten, Stickereien und geschnitzten Ziergegenständen auf. Ich zweige nach Südosten ab. Nach den letzten Häusern wird aus der leicht ansteigenden Asphaltstraße eine Schotterstraße, und im dichten Wald muss ich bei der anschließenden Talfahrt aus den Fahrspuren schliessen, wo es bei Verzweigungen wohl tatsächlich zum nächsten Ziel Urych weitergehen könnte. Dieser Ort besteht aus einigen verstreuten Holzhäuschen und ist berühmt wegen des mächtigen hölzernen Kastells, das hier auf Felsen im Mittelalter die Grenzen der Kiever Rus schützte und auch als Zollstation für den Salzhandel diente. Ein pensionierter Archäologe in Kittel und Krawatte erklärt mir im kleinen Museum ausführlich den kunstvollen Bau und dessen Bedeutung. Schade, dass mir die Zeit für die Besteigung der Felsen nicht reicht!
Das Tal wird allmählich breiter, mit weniger Wald, verstreuten Häusern und kleinen Feldern. Wackelige schmale Hängebrücken verbinden Siedlungen mit der Strasse. Ein kitschiges Standbild mit Soldat, Bauernmädchen und Pferd sollte wohl die Verbundenheit von Volk und Armee zeigen. Die Marienstatue im Hintergrund entbehrt nicht einer gewissen Ironie…
Bei Sinovidne stosse ich auf die E50, welche die westliche Ukraine mit der Slowakei, Ungarn und West-Rumänien verbindet. Sie ist entsprechend gut ausgebaut, und so kann ich vorläufig entspannt und doch zügig fahren, ohne ständig nach Schlaglöchern Ausschau halten zu müssen. Nach 35 km wähle ich ab Tucholka trotzdem die Variante auf der Schotterstraße über den 940 m hohen Pass statt der 200 m tieferen E50. Zwar teilweise steil, aber landschaftlich sehr schön und 20 km mit nur einem Auto! Und auf der Höhe Aussicht auf endlose Waldkuppen. Nach der langen kurvenreichen Abfahrt durch Weidegebiet mit Kuhherden bis Nizhny Vorota folgt gleich wieder ein Aufstieg, diesmal wenigstens auf Asphalt. Da es erst 18 Uhr ist, nehme ich trotz einem Motel auch noch den nächsten Pass unter die Räder. Auf dem Volovec-Pass spüre ich aber doch die gut 1’300 Höhenmeter dieses Tages und genieße die letzte Abfahrt hinunter nach Volovec. Zwar hat auch hier (wie könnte es anders sein an einem Samstag!) eine laute Hochzeitsgesellschaft das Hotel in Beschlag genommen, aber schließlich reicht es doch noch von halb drei bis sechs Uhr für erholsamen Schlaf.
Tagesbilanz Velo: 128 km / 7.6 Std. / 1’371 m Aufstieg
16.Juni Volovec – Ust Chorna
Durch den Notausgang verlasse ich das schlafende Hotel, decke mich in Gukliviy mit Fruchtsaft und Biskuits ein und nehme den nächsten Übergang in Angriff. Auf der Höhe machen grosse Tafeln Werbung für Sommer- und Wintertourismus und preisen Bauparzellen für eine Ferienhaussiedlung an. Im langen Tal nach Mizhirya hinab treffe ich auch immer wieder auf Werbetafeln von Hotels und Feriensiedlungen. Vorläufig ist die Idylle mit kleinen Holzhäuschen und Holzkirchen zum Glück erst durch wenige gigantische Hotelbauten gestört. Vereinzelt erinnern Reste großer Scheunen und Stallungen an ehemalige Großbetriebe der kommunistischen Vergangenheit. Neben einigen Autos und protzigen Offroadern sind aber immer noch schnelle Pferdefuhrwerke unterwegs. In den Dörfern sind viele Familien unterwegs zu den Kirchen, wo die Leute zum Teil nicht einmal Platz finden.
Ab Mizhirya wähle ich die direkte Nebenstraße ins Nachbartal nach Synevyr. Wobei Straße wohl nicht ganz der richtige Begriff ist: schon ab der Abzweigung ist es eine Schotterpiste mit groben Steinen und tiefen Gräben, mal flach, mal „sausteil“! Ich tröste meinen Chrampf mit der schönen Landschaft, aber bei 33°C ist das nicht immer leicht. Im oberen Teil ist es oft nur noch ein Feldweg mit zwei Spuren, dafür wird es etwas weniger steil. Und ganz oben treffe ich tatsächlich noch eine ganzjährige Bewohnerin mit einer Kuh, Ziegen und einem Hund! Früher sei hier eine Kolchose gewesen, im Tal unten eine Fabrik für Fernsehgeräte. Seit 20 Jahren sei alles geschlossen, die Leute abgewandert, keine Arbeit, eine Pension von 800 Grivni (knapp 80 Franken!) monatlich. Im Sommer kommen gelegentlich Touristen, vorwiegend Tschechen; im Winter geht es nur zu Fuß ins Tal. Aber sie will nicht weg („wohin schon?“) und schlägt sich irgendwie durch… und streichelt dazu lächeln ihren kleinen Hund und wünscht mir gute Fahrt.
Bei der Abfahrt ab dem Übergang (890 M.ü.M.) wird mein TdS zum Mountain-Bike. Meist in den Pedalen stehend suche ich mir das beste Durchkommen durch oder zwischen Schlammlöchern, grossen Steinen und ab und zu über die vom Viehtritt aufgerissene Weide. Ab Synevyr kann ich mich wieder auf einer passablen Asphaltstraße erholen.
Kolochava hat neben 8 anderen Museen ein großartiges Freilichtmuseum „Stary Selo“ mit traditionellen Häusern. Auf dem weiten Areal kann man rund 20 Holzhäuser, vom Stall, der Mühle über verschiedene Wohnhäuser bis zur Dorfwirtschaft und dem Polizeiposten samt Einrichtungen besichtigen. Ebenso faszinierend ist auf dem gleichen Areal das Eisenbahnmuseum mit allen möglichen Spezialfahrzeugen. Beim Ausgang treffe ich die Deutschlehrerin Maria Gleba mit ihrer Schultheatergruppe. Sie gibt mir nützliche Informationen über den Ort und insbesondere auch über die deutschsprachigen Siedler, die unter Maria Theresia in die Waldkarpaten kamen. Auf ihre Versicherung, dass es die Verbindungsstrasse nach Ust Chorna tatsächlich noch gibt, entschließe ich mich definitiv für diese bis dahin noch unsichere Variante. In Berichten im Internet hatte ich bisher nur immer Angaben gefunden, dass Velofahrer sich dann eben doch anders entschieden oder sogar umgekehrt hätten.
Beim Start um 16.30 Uhr freue ich mich über die gute Asphaltstraße. Aber am Dorfende ist die Freude schnell vorbei: grober Schotter, steil, dann nach der letzten Häusergruppe eine Verzweigung mit 2 Dreckwegen, auf denen ich zwischen 2 mehrere Dezimeter tiefen Traktorspuren nur etwa 40 cm „Fahrbahn“ für mich finde. Und natürlich wähle ich zuerst den falschen Weg und kämpfe mich nochmals 300 Meter zurück. Auf dem richtigen, aufsteigenden Weg dagegen ist Fahren schon gar nicht mehr möglich, aber es ist ja noch 4 Stunden hell, also mal schieben! In Kurven geht es durch Wiesen und Wald hoch, manchmal auf, dann wieder neben dem Velo. Im obersten Teil wird es weniger steil, ich kann längere Abschnitte fahren, und gegen halb 7 erreiche ich verschwitzt, aber erleichtert auf 910 m den Übergang. Bei der Talfahrt werde ich ja auch auf schmalen Streifen fahren können … Die Freude ist nach einer halben Minute Talfahrt schon vorbei: hier sind die Gräben noch tiefer, zudem vom gestrigen Regen überall voll Wasser, unter dem oft auch der ganze Weg verschwindet! Nach knapp 3 km erreiche ich den Talgrund, und nun geht es nur im Bach mit teilweise groben Steinblöcken weiter. Ab und zu taucht links oder recht wieder ein Strassenabschnitt auf, nur um nach wenigen Metern wieder im Bach zu verschwinden. Ich schiebe das Velo durch und über die Steine und wähle die Spur so, dass die Saccoche möglichst nicht ins Wasser taucht. Als es an einer Stelle im Bach gar kein Weiterkommen gibt, muss ich Velo und Gepäck separat über eine 4 m hohe rutschige Böschung hochschleppen, um wieder auf ein Stücklein Weg zu gelangen. Und auch ein Sturz im glitschigen Schlamm bleibt mir nicht erspart. Ich bereite mich geistig schon aufs Campieren auf irgendeinem trockenen Fleck vor. Nach 2 km „Bachweg“ wird dieser aber doch definitiv zu einem Schotterweg und nach der Brücke über die Mokryanka komme ich auf die „Hauptstraße“ des Tales und das Dorf Komsomolsk (oder mit dem alten Namen, der am Ende des langgezogenen Dorfes noch auf einer 2-sprachigen Tafel steht: „Nemetsky Mokra – Deutsch Mokra“). Noch 10 km flache Schotterstraße mit tiefen Löchern, und in der Dämmerung erreiche ich Ust Chorna („Königsfeld“) und finde nach einigem Fragen das Haus von Valentin Kais, das mir Maria Gleb in Kolochava empfohlen hat. Hier finde ich nicht nur ein gemütliches Zimmer, sondern auch herzliche Gastfreundschaft mit einem späten Nachtessen. Nach diesem Tag ein ganz besonderes Geschenk!
Tagesbilanz Velo: 97 km / 7.4 Std. / 871 m Aufstieg
17. Juni Ust Chorna – Rachiv
Ein prächtiger Morgen nach gutem Schlaf! Frau Kais hat meine verschlammten Kleider gewaschen, ich unterziehe mein TdS einer gründlichen Reinigung und erfahre beim Morgenessen mehr über die Region. Valentin Kais ist der letzte Nachkomme der vor rund 250 Jahren eingewanderten österreichischen Holzarbeiter und ist hier Lehrer für englisch und deutsch. Auf dem Friedhof veranschaulichen ukrainische, deutsche, rumänische, ungarische und tschechische Grabsteine die bewegte Vergangenheit dieser Gegend. Grund für mich, möglichst bald mehr darüber zu lesen! Von der Blütezeit der 1980-er Jahre mit Holzkombinat (1’000 Arbeitsplätze), Regler-Fabrik (300 AP), Ferienheim für 300 Gäste (50 AP) ist heute nur noch ein Sägewerk mit etwa 300 Arbeitsplätzen übrig. Und wer mehr als 500 Euro verdienen will (oder muss!), schlägt sich mit Nebenjobs durch oder wandert aus; in Moskau kann eine Putzfrau das achtfache verdienen …
Um 11 Uhr starte ich flussabwärts durch das enge Waldtal. Die Straße ist von früheren Hochwassern zum Teil nur eine Schotterpiste, und die gelegentlichen Holztransporter hüllen alles in eine dichte Staubwolke. Nach 22 km weitet sich ab Dubove das Tal. Hier fallen auch die ersten Roma-Familien auf. Die Abzweigung nach Voditsya finde ich nirgends und fahre deshalb weiter talabwärts. Vielleicht auch besser so: das wäre wohl schon wieder eine ähnliche Passfahrt wie am Vortag geworden! Um halb zwei komme ich bei Teresva in die hochsommerliche Theiss-Ebene (33°C) und fahre dem Grenzfluss entlang ostwärts. In den Dörfern fällt der Rumänische Baustil auf: kleine Schloss-Imitationen, glänzende und verzierte Zinndächer mit Verzierungen, Ortstafeln in ukrainisch und rumänisch. Der Grenzübergang nach Sighet ist nicht wie in meiner Karte angegeben in Bila Zerkva, sondern schon in Bolotvino. Auf der Suche nach einer Geldwechsel-Möglichkeit starte ich zum Übergang, kann ihn aber glücklicherweise bei einem Bancomat nach 1 km abbrechen. Die Straße ist schlimmer als die Einfahrt nach Lemberg, offenbar besteht kein grosses Interesse, den Grenzverkehr zu erleichtern. Bis vor kurzer Zeit war der Übergang für Ausländer auch noch gesperrt.
In Bitchkiv decke ich mich mit saftigen Pfirsichen ein für die Strecke nach Rachiv hinauf. Die Ortschaften werden wieder seltener, das Tal enger, aber die Straße bleibt gut und hat mäßigen Verkehr. Hier beginnt das ausgedehnte UNESCO-Biosphärengebiet Waldkarpaten, und verschiedene Info-Tafeln geben Auskunft über Entstehung und Besonderheiten dieses Schutzgebietes. Bereits zum zweiten Mal auf meiner Tour komme ich nach Polozk (Belarus) auf den „Mittelpunkt Europas“, diesmal bei Kostilivka. Neben der Tafel aus der K&K-Zeit ist hier vor allem ein Rummelplatz mit Restaurants und Verkaufsständen für Handwerkskunst und Spezialitäten aus der Region. Es dämmert bereits, und so erreiche ich den Gebietshauptort Rachiv (das „huzulische Paris“ ) gerade bei Einbruch der Nacht. Im Hotel „Europa“ beziehe ich für 80 Grivni (9 Franken!) ein tadelloses Zimmer mit Gemeinschaftsbad. Im nahen Restaurant erhalte ich für 140 Grivni eine feine Forelle, Bier, Espresso und einen Cognac. Ein Westler lebt hier wirklich unglaublich billig…
Tagesbilanz Velo: 128 km / 6.7 Std. / 366 m Aufstieg
- Juni Rachiv – Vorochta
In Rachiv bin ich schon wieder tief in den Karpaten. Am Morgen ist es knapp 10° C, durch den Morgennebel erscheint hinter den Waldkuppen ein tiefblauer Himmel. Nach einem Spaziergang durch das geschäftige Markttreiben und zwei kräftigen Espressi mit einem heißen Schokoladegipfel starte ich gegen 10 Uhr weiter nordwärts. Das Huzulen-Museum in Yasinya ist über Mittag geschlossen, also mache ich hier gleich ausgiebig Mittagspause. Das Warten lohnt sich: Das Museum (Eintrittspreis nach Gutdünken!) zeigt Hauseinrichtungen, Werkzeuge, Kleider und Foto-Dokumente dieses früher halbnomadisch lebenden Hirtenvolkes, das in abgelegenen Karpatenregionen noch bis vor 100 Jahren ohne die „Segnungen“ unserer Zivilisation lebte.
3 km weiter beginnt der Aufstieg zum Yablushnitskij-Pass (930 m.ü.M.). Auf der Passhöhe wieder Reihen von Verkaufsständen mit Teppichen, Decken, Stickereien und Schnitzereien, aber wie in der gesamten Region nur wenigen Touristen. Auf der langen Abfahrt treffe ich längs der Straße immer wieder auf Kinder oder Frauen mit grossen Gläsern voller Heidelbeeren und Kübel voller Pilze. Schade, dass ich außer einem kleinen Glas Beeren nichts mitnehmen kann. Die Hoffnung auf das Tourismus-Geschäft zeigt sich durch die vielen Werbetafeln für bestehende oder vor allem geplante Hotels und Appartement-Komplexe sowie halbfertige Baustellen. Höchste Zeit, das Gebiet noch vorher zu besuchen!
In Tatariv nehme ich die kleine Nebenstraße wieder talaufwärts gegen Vorochta. Außer ab und zu einer Frau, die am Strick ihre Kuh längs der Straße grasen lässt, treffe ich kaum jemanden an. Vorochta kündet sich mit einer baufällig wirkenden Hotelanlage an, hinter der eine wenig besser wirkende Schanzen-Anlage zu sehen ist. Der Ort war einst ein blühendes Wintersport-Zentrum und bemüht sich nun, dies auch wieder zu werden. Dazu ist es Ausgangspunkt für Bike-Touren und Wanderungen bis zum Goverla, mit 2016 m der höchste Berg der Ukraine. Hier entspringt auch der Prut, den ich 22 Jahre zuvor auf meiner ersten grossen Velotour an der Grenze Moldawien – Rumänien erstmals überquert hatte. An die gute Vergangenheit erinnern hinter den Bäumen einige Holzbauten mit Laubsäge-Verzierungen, wohl ehemalige Villen und heute eher baufällige Alters-Wohnheime. Auch die Straße scheint kurz vor dem unmittelbaren Zerfall zu stehen. Erfreulicherweise finde ich im „Mogul“ fast am Ortsende doch ein sehr gutes Zimmer (100 Grivni !) und dazu im nahen „Stary Vorochta“ ein ausgezeichnetes Nachtessen in einem geschmackvoll auf „traditionell“ eingerichteten Restaurant. Dazu gibt es interessanten Erfahrungs-Austausch mit einer Familie aus Grenoble, deren Camper mir schon auf dem Yablushnitskij aufgefallen ist. Mit 2 kleinen Kindern bereisen sie 6 Monate lang ganz Osteuropa; etwas bequemer als ich, aber ich ziehe trotzdem das Velo vor!
Tagesbilanz Velo: 68 km / 4.1 Std. / 507 m Aufstieg
- Juni Vorochta – Vizhnitsya
Nachts hat es wieder stark gewittert, am frühen Morgen immer noch kräftiger Regen. Ich starte bei einem kurzen Unterbruch um halb 9, ohne Kaffee, denn vor 9 Uhr ist wirklich noch ALLES geschlossen, leider auch die prächtige Holzkirche Peter und Paul mit ihren Goldkuppeln. Die Fahrt geht durch einsamen Wald, wo umgestürzte Bäume von der vergangenen Nacht eben erst weggeräumt werden. Die Landschaft erinnert an die Franches Montagnes im Jura. Auf der Höhe des Krivopillya-Passe (1054 m) bricht wie als Belohnung die Sonne durch die Wolken. Leider bremst der schlechte Straßenzustand die fast 20 km lange Talfahrt nach Verchovina. Auch hier gibt es nach kurzer Verpflegung nochmals ein interessantes Huzulen-Museum zu besuchen, in Krivorynya einige Kilometer weiter das ehemalige Wohnhaus des West-ukrainischen Nationalhelden Ivano Franko. Die gemütliche Fahrt auf nun guter Straße durch das gewundene Tal endet leider schon bald mit der Abzweigung zum Bukovets-Pass:und auch mit steilen Abschnitten. Aber nach einer halben Stunde ist es geschafft: der letzte Pass (835 m) auf meiner Tour, von jetzt an nur noch abwärts und flach! Mit einem Yoghurt und den Heubeeren mache ich mir ein feines Müesli und fahre talwärts durch Wälder und Wiesenhänge mit weit verstreuten einzelnen Häuschen. Ab Sokolivka weitet sich das Tal, die Straße wird besser. In Kosiv finde ich außer der nur noch als dünnes Rinnsal fließenden Rybniza und dem monumentalen Kriegsdenkmal nichts sehenswertes und wähle als Tagesziel Vizhnitsya. Die Müdigkeit macht sich immer mehr bemerkbar, und die 50 m Steigung auf schlechter Straße sowie kräftiger Gegenwind machen mir auf den letzten 10 km über Kuty schwer zu schaffen. In Vizhnitsya zeigen mir Einheimische den Weg zum Sportzentrum „Bogatyr“, wo ich ein gutes Zimmer mit Dusche finde. Mit einem Bummel durch das nahe Zentrum mit dem Marktplatz, dem Rathaus, der ehemaligen Synagoge und den schönen Häusern aus der Jahrhundertwende, sowie einem Poulet als Nachtessen beschließe ich den langen Tag. Morgen sollte es gut bis Chernivtsi, dem Ende der eigentlichen Velo-Tour, reichen.
Tagesbilanz Velo: 87 km / 5.1 Std. / 586 m Aufstieg
20.Juni Vizhnitsya – Chernivtsi
Gemütlich aufstehen, ein letztes Mal Velo reinigen, ein letztes Mal das improvisierte Morgenessen mit Yoghurt, Fruchtsaft und irgend einem Gebäck, mit dem i-Phon ein Hotel suchen in Chernivtsi, und los geht’s auf guter Straße mit wenig Verkehr durch die breite Ebene des Chermosh. Bauern fahren mit Pferdefuhrwerken das Heu ein, überall pfeifen unbekannte Vögel, … – zwar gemütlich, aber gegenüber den Vortagen doch fast langweilig. Einzig größerer Ort unterwegs ist Vashkivtsi mit Markt und Gelegenheit für einen Mittagshalt. In Chortoya mache ich auf Grund einer grossen Tafel den Abstecher zum Haus des offenbar in der Ukraine berühmten Regisseurs Ivan Sadiba. Zwar ein schönes altes Holzhaus, als Museum eingerichtet, aber der nebenan wohnende Bruder des Geehrten füllt am Ziehbrunnen den Wasserkessel und hat offensichtlich überhaupt keine Lust, die Türe dieser Gedenkstätte zu öffnen. Ab Glinitsya möchte ich statt der verkehrsreichen Hauptstraße nördlich des Prut trotz Warntafeln die direkte Nebenstraße nach Chernivtsi auf der Südseite nehmen. Nach einem Kilometer kapituliere ich aber, da nach den ersten Belagsresten schon schnell Abschnitte
mit bodenlos scheinendem Sand beginnen und es doch noch gut 17 km wären. So bleibt mir eine Stunde mit starkem und schnellem Lastwagenverkehr und ersten Verkehrsstaus eben nicht erspart. Um 14.40 Uhr begrüßt mich am Straßenrand in grossen Betonbuchstaben mein Ziel Chernivtsi. 6 km weiter bin ich am Bahnhof und damit am Rande der eigentlichen Stadt. Die Stadt selbst liegt darüber auf einem Hügel, was nochmals steile, auf grobem Pflasterstein kaum fahrbaren Weg erfordert. Um 15.30 Uhr stelle ich nach 2’118 km mein Velo vor dem Hotel „Magnat“ (vul. Lva Tolstovo 16) zum letzten Mal ab. Velo reinigen, duschen, kurz schlafen, und ab jetzt nur noch GENIESSEN !!!
Das heißt: Auf dem nahen Europa-Platz einen halben Liter Kvas trinken, die nächsten Tage planen, bis spät abends durch die immer noch belebten Straßen spazieren und dazwischen in einem der Cafés um den Theater-Platz essen und trinken.
Tagesbilanz Velo: 79 km / 4.4 Std. / 134 m Aufstieg
21.Juni Ausflug Ivano-Frankivsk (früher Stanislav)
Obwohl mir im Hotel der Bus empfohlen wird, wähle ich für den Tagesausflug die Bahn und löse am Bahnhof auch gleich mein reserviertes Billet für den Nachtzug nach Kiev ein. Dabei erfahre ich, dass ich das Velo aber nur verpackt mitnehmen darf. Und beim Ausdrucken des Gepäckscheins stürzt das ganze EDV-System ab. Resultat: im ganzen Bahnhof geht gar nichts mehr, an den 10 Schaltern wachsen die Kolonnen der Passagiere vor den heruntergelassenen Fenstern. Erst nach einer halben Stunde kommt wieder Bewegung in den Betrieb, zum Glück stehe ich ja zuvorderst!
Die 2-stündige Fahrt im schwach besetzten Zug ist gemütlich, gut ausgeruht erkundige ich den ganzen Nachmittag das sehenswerte historische Zentrum dieser erst 1962 zu Ehren des Schriftstellers Ivano Franko umbenannte drittgrößten Stadt der West-Ukraine. Seit 1990 wurden sehr viele Gebäude aus den vergangenen Jahrhunderten stilecht restauriert, und daneben auch viele moderne Bauten erstellt. Eine interessante Reise durch die Architektur-Geschichte! Im Gegensatz zu dem bisher Gesehenen scheint hier genügend Geld vorhanden zu sein. Ein sehr lohnender Tages-Ausflug!
22. Juni Besichtigung Chernivtsi, Nachtfahrt nach Kiev
Die Stadt („Klein-Wien des Ostens“) wirkt nach dem Besuch in Ivano-Frankivsk fast ärmlich, hat aber vielleicht gerade deshalb in ihren Gassen und auf den Plätzen irgendwie noch mehr „Charakter“. Das alte Galizien, bzw. die Bukowina, ist auf den holprigen Strassen zwischen den stuckverzierten Häusern noch allgegenwärtig. Ausser den mächtigen Backsteinbauten der Erzbischöflichen Residenz (1864, heute Universität) , dem Rathaus, dem Theater, dem Bahnhofsgebäude, den vielen Kirchen aller Glaubensrichtungen und weiteren Repräsentations-Bauten lohnen auch die stillen Seitengassen einen ausgiebigen Besuch zu Fuss. Aber um 16.30 Uhr ist endgültig Schluss, auf 17.30 Uhr holt mich mein Taxifahrer Vitalij beim Hotel ab.
Die „Provodnitsa“ vor meinem Bahnwagen schaut ungläubig auf mein verpacktes Velo: wo soll das wohl hin, dafür gibt es nirgends Platz! Aber ich versuche es auf eigene Faust, und siehe da: Die Reserve-Decken aus dem Fach über der Türe des 2-er Abteils räumen, und das Pack passt knapp hinein! Und so startet die Nachtfahrt mit dem Zug Sofia – Kiev in Begleitung einer alten Frau aus Chernivtsi, die zu ihrer Tochter in die Hauptstadt fährt. Sie ist überzeugte Kommunistin, schimpft über die West-Ukrainer („Schelme, Banditen und Hitler-Freunde“) und Gorbatschov („schau Dir nur dieses Teufelszeichen auf seiner Stirn an!“) und teilt wie selbstverständlich ihr mitgebrachtes Nachtessen mit mir, bevor sie sich hinlegt und friedlich losschnarcht. Für mich ein Grund mehr, den grössten Teil der Nacht statt hier bei fast 30°C mir im Gang aus dem offenen Fenster den Wind ins Gesicht blasen zu lassen und zufrieden auf die vergangenen Wochen zurück zu blicken.
23. – 26.Juni Kiev und Heimreise
Ein Reise-Abschluss mit 3 Tagen in der ukrainischen Hauptstadt. Entdeckungen zu Fuss, per Metro und per Bus: das Zentrum mit dem prächtigen Chreschtschatyk-Boulevard und dem Majdan-Platz mit Fest-Stimmung bis nach Mitternacht, die berühmten Kloster-Komplexe (Höhlenkloster, St.Michaels-Kloster, …), die Parkanlagen mit dem Museum des „Grossen Vaterländischen Kriegs“ und der gigantischen „Volksmutter“-Statue, die fast dörflich wirkende steile Andrejvskij-Stiege („Montmartre in Kiev“), Abend in den ausgedehnten Park-Anlagen über dem Dnjepr mit Aussichtsplattformen, Spielplätzen, Imbiss-Buden und Denkmälern aus allen Epochen der Ukrainischen Vergangenheit, ….. – in 3 Tagen sieht man nur einen Bruchteil dieser Grossstadt, die gerade jetzt erst richtig bei uns in den Blickpunkt gerückt wird.
Am 26. Juni nehme ich endgültig Abschied von der Ukraine, allerdings mit unerwartetem Zwischenspiel: der auf meinem SWISS-Ticket vermerkte Abflug von Terminal F am Flughafen Kiev-Boryspil wurde schon einen Monat zuvor auf den Terminal D verlegt, ohne dass ich über Handy oder e-mail eine Mitteilung dazu erhalten hatte. Und wegen leichter Verspätung meines Taxis ab dem Hotel und kaum vorhandener Transportmöglichkeiten zwischen den beiden weit auseinander liegenden Terminals war ist mein Flugzeug ohne mich nach Zürich gestartet. Erst mit langen Telefons und Umbuchungen sowie einem happigen Mehrpreis komme ich mit Lufthansa am späten Abend via München doch noch in Zürich an. Und die Zusatz-Kosten von total ca. 730 Franken kann ich mir ans Bein streichen. Aber dies bleibt die einzige negative Erinnerung an die lohnende und vollständig pannen- und unfallfreie Tour!